Das Veltheimer Unglück an der Fähre am 31. März 1925
Von Reinhold Kölling (Ortsheimatpfleger Veltheim)
Bei einer Übung der Reichswehr ertranken am 31. März 1925 80 Soldaten der Reichswehr und ein Zivilist bei einer Übung in der "Weser. Die Nachrichten über das Veltheimer Fährunglück gingen damals durch die gesamte deutsche Presse und erregten darüber hinaus auch in der Weltpresse großes Aufsehen. Noch Jahrzehnte später wurde ich, wenn ich zufällig meinen Geburtsort Veltheim erwähnte, auch von Fremden immer wieder gefragt: „Ist dass das Veltheim, wo sich das große Fährunglück ereignete?“ Der vier Wochen nach dem Unglück in Minden geführte Strafprozess, der den Hergang des Unglücks und die Schuld an der Katastrophe klären sollte, fand ebenfalls in ganz Deutschland und auch im Ausland große Beachtung.
Ich habe nach einem Bericht des Redakteurs Georg Strutz (erschienen in der Freien Presse, Minden, am 26.3.,29.3., 30.3., 31.3., 1.4. und 2.4.1955) die wichtigsten Tatsachen über das Unglück zusammengestellt. Der Redakteur Strutz kam etwa zwei Stunden nach dem Unglück als Zeitungsberichterstatter an die Unglücksstelle und hat mit vielen Augenzeugen des Unglücks gesprochen.
„Im Bereich der 6. Reichswehrdivision war in der Gegend des Weserbogens und der Porta 'Westfalica eine Standortübung angesetzt worden, an der die Ausbildungsbataillone der Reichswehrregimenter 16 (Osnabrück), 18 (Detmold), zwei weitere Infanteriebataillone, Artillerie und Kavallerie aus Hameln und Paderborn, Pioniere und Kraftfahrformationen aus Minden und Münster teilnahmen. Die Aufgabe war, dem aus Richtung Steinhuder Meer - Minden vordringenden Gegner (Rot gekennzeichnet) den Weg abzuschneiden und südlich der Porta die Eisenbahn zu zerstören.
Die „blaue“ aus Südwesten kommende Truppe sollte nach Nordosten vordringen und dabei mit Fähren die Weser überqueren. Das Ausbildungsbataillon Inf.-Regt. 18 aus Detmold traf dabei mit Verspätung ein, so dass nun in aller Eile die Verladung auf die bereitstehende „Fliegende Brücke" begonnen werden musste.
Es wurde dabei eine so genannte „Gierfähre“ benutzt, die aus vier (je zwei und zwei hintereinander liegenden und durch Bohlenbelag miteinander verkoppelten) Pontons bestand. Das Gefährt war über ein weiter stromauf liegendes Ponton hinweg mit einem Seil im Oberstrom verankert. Durch Schrägstellung wie bei einer regulären Fähre konnte es mit dem Druck der Strömung von einem Ufer zum anderen gependelt werden. Alles schien tadellos und entsprechend der Dienstvorschrift zu funktionieren.
Nun aber wurden erstmalig Menschen verfrachtet, feldmarschmäßig bepackt, mit Tornister, Stahlhelm und Gewehr. Eine ganze Kompanie stand, dicht aneinandergepresst, noch halb außer Atem durch die Hetze der verspäteten Ankunft, auf den ungewohnten Planken. Dann ging die Fahrt los - die Todesfahrt. In Sekundenschnelle eilte man das jenseitige Ufer zu. Alles schien gut zu gehen, das Gefährt war bereits über die Mitte des Stromes hinweg, als plötzlich eine leichte Bewegung in die Mannschaft kam. Die Mitte der Gierfähre neigte sich ins Wasser, Soldaten rutschten ab, andere stürzten hinterdrein. In bleichem Entsetzen hockte die restliche Mannschaft auf dem hinteren Teil der sinkenden Fähre, die, nach dem Kappen des Halteseils, stromab trieb, und starrte auf das vom Oberstrom heran nahenden Rettungsponton. Als es dicht am Unglücksfahrzeug war, brach eine Panik aus. Soldaten sprangen über, andere mit der Fähre Versinkende klammerten sich an die Breitseite des Pontons, so dass es schwerfällig umschlug. Verschiedene erstickte Aufschreie, ein leichter Strudel, dann war auch dies zweite Unglück vorüber.
Den Zuschauern am Ufer stockte der Atem. Sie sahen Fährmann Huck mit seinem Boot ankommen, das er vor seiner eigenen Fähre losgemacht hatte und alle wunderten sich, wie er so schnell hatte herankommen können.
Mit Staken und den Händen entrissen die Insassen manchen schon fast Verlorenen den Fluten. Auch sonst am Ufer regten sich rettende Kräfte.
Aber alles geschah in wenigen Minuten - kaum dass die Menschen am Ufer sich richtig aus der Erstarrung lösten. Mit den aus den Nachbarorten heranströmenden Menschen, die von dem furchtbaren Unglück gehört hatten, schwollen auch die Gerüchte.
Was war daran? Ich hörte von einem jungen Pionier, der neben anderen tapferen Rettern wahre Wundertaten vollbracht haben sollte. Immer wieder sei er in die Strömung hinaus geschwommen und habe einen nach dem anderen der meist des Schwimmens unkundigen Infanteristen herausgeholt.
Acht bis zehn Mann, so erzählte man sich, habe er unter größter Lebensgefahr gerettet, ehe er schließlich erschöpft am Ufer zusammengebrochen sei. Diesen Pionier suchte ich; sicherlich würde er mir manches berichten können - falls er überhaupt vernehmungsfähig war. Meine Vermutung, dass er in irgendeinem der Privathäuser untergebracht war, deren Bewohner hilfsbereit die den Fluten entrissenen Soldaten aufgenommen und betreut hatten, bestätigte sich bald.
Es handelte sich um den aus Minden stammenden Pionier Gerhard Pape, der später im 2. Weltkrieg gefallen ist. Pape berichtete: "Das Dollste war ja, dass sie meist alle noch den Tornister auf dem Rücken hatten und kaum einer die Knarre losließ.
Hatten sich daran festgeklammert wie an dem berühmten Strohhalm. Wenn sie aber losließen, musste ich mich vorsehen, dass ich nicht Strohhalm wurde. Am schlimmsten war es mit den Dreien, die sich wie eine Traube umklammerten. Einer davon war Schwimmer und quälte sich fürchterlich.
Die wären bestimmt alle drei abgesackt. So aber - wenn du willst: mit meiner Hilfe - kamen sie, wenn auch nass, doch noch ans Land."
Schon am Abend des Unglückstages, als die Strompolizei mit einem Motorboot und großen Fangnetzen stromauf kam, irrten Angehörige der Vermissten mit verquollenen Augen durch die Menschen an den dicht besetzten Uferrändern und suchten, suchten, suchten. Vielleicht, dass gerade ihr Sohn, ihr Liebster durch Zufall doch noch gerettet und irgendwo in den Häusern bis nach Rinteln hin untergebracht war?
Einen weißhaarigen Mann, von zwei jüngeren Menschen gestützt, werde ich nie vergessen. Mit zusammengepresstem Mund und leeren Augen ließ er sich immer weiter führen, obwohl die Erschöpfung ihm bereits die Beine lähmte. Und eine bäuerlich gekleidete Mutter sah ich, die mit rot verweintem Gesicht immer wieder den einen oder anderen anbettelte: "Nun helft mir doch suchen, helft mir doch suchen! Ihr und den vielen anderen Betroffenen konnte niemand helfen. Alle Hoffnung war dahin.
Irgendwo versunken in der Strömung trieb vielleicht ein lebloser Körper, hing in einem der Weserkolke einer der Frühvollendeten fest.
Vom lippischen Landtag, der gerade tagte und in einer Trauersitzung der Opfer dieser furchtbaren Katastrophe gedacht hatte, kamen Landespräsident Heinrich Drake und der Präsident des Landtags Wilhelm Meier herbeigeeilt. Auch sie konnten sich nur notdürftig unterrichten über den Umfang der Katastrophe. Sie ordneten daraufhin Landestrauer an für den gesamten Freistaat Lippe. Und als die Menschen dann am 3.April zu einer Trauerfeier im Kasernenblock des Detmolder Ausbildungsbatallions zusammenströmten, da gab es in Detmold kein Haus ohne Trauerflor, Fahnen und Flaggen. Die Straßen und Gassen mit ihrem düsteren Aussehen. an diesem schwarzem Freitag wurden nur noch überschattet von den trauernden Herzen der Einwohner dieser Stadt. Viele offizielle Vertreter; darunter Reichswehrminister Dr. Geßler und General von Seeckt, hatten sich neben den Angehörigen der Toten in dem zur Kapelle umgewandelten Exerzierhaus eingefunden. "
Bergung
Die Bergungsarbeiten waren dem Oberstleutnant Lindemann unterstellt worden. Er hatte eine Kompanie Pioniere aus Minden, den Reichswasserschutz und Technische Nothilfe eingesetzt, die gemeinsam fieberhaft bestrebt waren, die Weser nach Opfern abzufischen. Die Weserufer waren aufgewühlt von den Rädern der Motorfahrzeuge. Taucher wurden eingesetzt. Hunderte von Menschen schauten jeweils zu.
Ein Kinooperateur kurbelte die traurige Szene. Lange hielt die Weser ihre Opfer fest. Tornister, Koppel und Ausrüstungsgegenstände waren das erste, was unterhalb von Veltheim, etwa in der Höhe von Erder,
angeschwemmt wurde. Dort war auch das Wrack der Fähre angetrieben worden, das die Teno sogleich zerlegte.
Noch weiter unterhalb, etwa bei Vlotho, trieb das umgeschlagene Rettungsponton an, das somit 10 km
weit fortgeschwemmt worden war. Tag für Tag arbeiteten die Bergungsmannschaften. Alle Kolke wurden
systematisch abgesucht, immer wieder Taucher eingesetzt. In den ersten acht Tagen wurden 21 Leichen an Land gebracht, die meist bei Erder gefunden worden waren. Manchmal hatten sie sich in der Todesnot wie Trauben aneinander geklammert - so fand man sie in den Kolken. Und jedes Mal, wenn ein Motorschiff stromauf kam und bei Veltheim an Land legte, wusste man: wieder einer!
In der Dorfkirche und im Konfirmandensaal lagen sie aufgebahrt, einer neben dem anderen, jeder ein Blumensträußchen in den längst erkalteten Händen haltend.
Nach zehn Tagen waren 51 Tote geborgen. Die letzten Vermissten wurden nach Porta, Petershagen und Windheim fort getragen. Am 23.April, 24 Tage nach dem Unglück, gab die Weser ihr letztes Opfer frei.
Opfer
81 junge Menschen hatten den Tod in der Weser gefunden. Nach den amtlichen Mitteilungen handelte es sich dabei um 33 Soldaten der 14. Kompanie Infanterie Regiment 18 Detmold, 5 Soldaten der 16. Kompanie Infanterie Regiment 18 Detmold, ein Offizier der Kraftfahrabteilung Münster, ein Soldat des Pionier-Bataillons 6 Minden, ein Zivilist (Kaufmann Wilhelm Brand aus Varenholz).
Dieser hatte die reguläre Fähre nicht benutzen können, da sie wegen der Übung stillgelegt worden war. Mit der Bitte, mit nach "drüben" genommen zu werden, erfüllte sich sein tragisches Schicksal.
Schuld und Ursache
Die Untersuchung über Schuld und Ursache des Unglücks wurde inzwischen fortgesetzt. Der als Beauftragter des Reichswehrministeriums nach Minden entsandte Inspekteur des Pionierwesens, Generalmajor Ludwig, kam dabei zunächst zu folgenden Ergebnissen: Die bei der Truppenübersetzung gebaute Fähre entsprach den Vorschriften. Sie war nicht überbelastet. Durch die Stromgeschwindigkeit von 1,50 Meter in der Sekunde schlugen Wellenköpfe in eines der tragenden Pontons. Der im Boot befindliche Pionier meldete das pflichtgemäß dem die Überfahrt leitenden Oberleutnant Jordan, obwohl sich keine nennenswerten Wassermengen im Ponton befanden. Der Oberleutnant befahl eine geringere Gier Stellung (Schrägstellung der Fähre zur Strömung); das war richtig. Die Mannschaft hatte den Ruf: „Wasser im Ponton!“ vernommen, drängte daraufhin nach der landeinwärts gelegenen Seite und überlastete die Fähre nach der Mitte zu. Oberleutnant Jordan befahl in dieser Situation, das Ankertau zu kappen. Auch das war richtig, weil sonst der Wasserdruck die Fähre schnell unter Wasser gedrückt
haben würde.
Der Befehl des Leutnants Heidkämper an die Restbesatzung, Gepäck und Gewehre ins Wasser zu werfen, wurde aus missverstandenem Pflichtgefühl nicht befolgt. Oberleutnant Jordan beorderte den Rettungsponton, der oberhalb am Ufer bereitlag, an die Unglücksstelle.
Leutnant Heidkämper wollte nur die von ihm bestimmten Männer ins Boot lassen. Seine Anordnung wurde in der Panikstimmung jedoch nicht befolgt. Zuerst sprang ein Mann mit vier umgehängten Gewehren ins Boot, dann die gesamte Besatzung. Und da sich der Rest von der sinkenden Fähre aus an die Breitseiten des Pontons klammerte, schlug das Boot um und begrub alles unter sich.
Prozess
Unabhängig von allem hatte die Oberstaatsanwaltschaft Bielefeld ihre Ermittlungen angestellt. Über hundert Zeugen wurden von ihr vernommen. Vier Wochen nach dem Unglück stand der Pionieroberleutnant Jordan dann unter der Anklage der fahrlässigen Tötung. Obwohl gestimmte Vorschriften über die Belastung einer „fliegenden Fähre" nicht beständen, so hieß es in der Klageschrift, sei eine Überlastung wahrscheinlich gewesen. Geäußerte Bedenken habe Jordan abgewiesen mit dem Hinweis auf seine Verantwortlichkeit, die er nach der Dienstvorschrift auf sich nehme. Nachdem er nach dem Unglück und seiner Rettung aus der Weser zunächst zusammen gebrochen war, habe sich Jordan am 9. April geweigert, auf einer rekonstruierten Fähre eine Probefahrt mitzumachen unter dem Hinweis, diese Fähre liege tiefer im Wasser als das damals gebaute Fahrzeug.
Die Überfahrt am 11.April mit 149 feldmarschmäßig ausgerüsteten Infanteristen habe ergeben, dass eine Belastung mit 125 Personen im Höchstfalle vertretbar gewesen wäre. Am Unglückstage seien aber 167 Mann auf die Fähre gestellt worden. Das Unglücksgefährt habe auch nicht, wie es Vorschrift war, einen Rettungsponton im Schlepp gehabt, sondern es seien nur unzulängliche Boote oberhalb der ÜbersetzsteIle
bereitgestellt gewesen. Die Belastung der Fähre sei zudem ungleichmäßig erfolgt.
Diese und andere Tatbestände bildeten die Anklagepunkte zu einer achttägigen Gerichtsverhandlung in der "Weserklause" zu Minden. Die Anklage vertrat dabei Oberstaatsanwalt Dr. Schwederski, Bielefeld, den Vorsitz führte der Mindener Amtsgerichtsrat Vagedes.
Der angeklagte Oberleutnant Jordan, hoch gewachsen und schlank, mit einem Monokel im Auge, machte einen ruhigen, gefassten Eindruck. Er schilderte aus seiner Sicht heraus die Ereignisse am Unglückstage,
betonte, dass er sich bei der Konstruktion der Fähre genau an die Vorschrift gehalten habe, die nach seinen Berechnungen 175 Mann hätte tragen müssen. Die ungewöhnliche Schnelligkeit der Fähre bei der
Überfahrt habe er nach dem Ruf des Pioniers "Wasser im Ponton" durch abgeänderte Gier Stellung gebremst und zugleich den Befehl erteilt:
"Alles Oberstrom treten und verteilen!" - ein Befehl, der anscheinend von den Infanteristen in seiner Bedeutung nicht richtig erkannt worden sei. Auch er selbst sei ins Wasser gerutscht, habe sich dann etwa
150 Meter weiter unterhalb schwimmend ans Land retten können. Unbekannt sei ihm die Bestimmung gewesen, dass die Fähre einen Ponton im Schleppzug haben musste. Die Übersetzstelle bei Veltheim, in unmittelbarer Nähe der üblichen Fähre, habe er an sich für ungefährlich gehalten."
Während viele der geladenen Zeugen das bereits bekannte Bild bestätigten, waren die Bekundungen des Amtsgerichtsrates Mitteldorf in Vlotho von besonderer Bedeutung. Er machte der Technischen Nothilfe den schwerwiegenden Vorwurf, das angetriebene Wrack voreilig, ohne die amtlichen Untersuchungen abzuwarten, abmontiert zu haben. Dadurch seien die entscheidenden Ermittlungen außerordentlich erschwert worden. Nach den ihm gewordenen Mitteilungen sei kein einziger Balken oder Brett gebrochen und die Verschnürung einwandfrei gewesen. Zweifellos aber sei eine Gierfähre der gebauten Art empfindlich wie eine Apothekerwaage, ein einziger Mann könne schon Schwankungen hervorrufen.
Hauptmann Isermann von der 14. Kompanie, der auch schwimmend von der Fähre aus das Ufer erreichte, war nach seinen Aussagen verspätet mit seiner Truppe an der Unglückstätte eingetroffen, weil schlechte Wege und sonstige Schwierigkeiten ihn behindert hätten. Deshalb habe die Mannschaft erhitzt die Fähre besteigen müssen. Nach seiner Meinung sei die Fähre bereits besetzt gewesen, als er Oberleutnant Jordan
gegenüber eine weitere Belastung Bedenken geäußert hätte. Er habe sich aber den Anordnungen Jordans fügen müssen, der für die Fähre Befehlsgewalt hatte. Die meisten der ihm unterstellten Leute seien
Nichtschwimmer gewesen und daher sei auch die große Zahl der Opfer zu beklagen.
Der Hauptmann der 15.Kompanie weigerte sich, seine Soldaten der Fähre anzuvertrauen. Dadurch blieben sie vor dem Schicksal der 16. Kompanie bewahrt.
Von vielen zivilen Zeugen wurde übereinstimmend bekundet, dass die Leute nur widerwillig auf die Fähre gegangen seien. Mehrfach sei geäußert worden: „Wenn das gut geht, geht alles gut!“
Am wichtigsten und eindrucksvollsten war wohl die Aussage des Fährmanns Huck, der langjährige Erfahrungen mit dem Übersetzen über die Weser hatte. Er hält die Strömung gerade bei Veltheim für reißend, die Hauptstromstärke sei ca. 20 Meter von beiden Ufern entfernt. Als die Fähre vom jenseitigen Ufer abstieß, habe es sehr gefährlich ausgesehen. Sein Freund Tellermann aus Veltheim habe ihn aufgeregt
angestoßen und gesagt: "Ich befürchte Schlimmes! Wenn das nur gut geht! Mache lieber deine Fähre klar - für alle Fälle!“ Beide seien daraufhin zur eigenen Fähre geeilt, die er sofort losmachte. Da das Unglück in diesem Augenblick geschah, konnte er mit seinem Boot rechtzeitig herankommen und so viele Soldaten vor dem Ertrinken retten.
Für die Gerichtsverhandlung wurde noch einmal eine Gierfähre gebaut. Dafür musste eine Sondererlaubnis vom Reichswehrministerium eingeholt werden, weil der Bau inzwischen grundsätzlich für alle Zukunft verboten worden war. Eine Überfahrt über die Weser wurde zwar nicht gestattet , immerhin aber war es möglich, am Ufer das Fahrzeug mit 167 Mann zu belasten - wie am Tage des Unglücks. Es zeigten sich bei Gier Stellung zwischen vorderem und hinterem Ponton starke Strudel und Wellenköpfe, auch wurden leichte Erschütterungen sofort registriert.
„Empfindlich wie eine Apothekerwaage!“ hatte Amtsgerichtsrat Mitteldorf gesagt; hier bestätigte es sich.
Kein Wunder also, dass auch der Gutachter Oberst vom Sommerfeld später sagte: „Ich wäre nicht mit hinübergefahren, denn solches Monstrum von Fähre hat gänzlich seinen Sinn verloren!"
Die ganze schwere Bürde der Verantwortung wälzte dieser Vertreter des Reichswehrministeriums auf
die alte, von Oberleutnant Jordan benutzte Dienstvorschrift aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts. Ihre Lückenhaftigkeit habe zu dem tragischen Unglück geführt. Höchstens hundert Mann hätten dem Fahrzeug anvertraut werden dürfen, war seine Meinung. Ein anderer Gutachter namens Krel fand die Schuld in dem Fehlen bestimmter und klarer Vorschriften, der unglücklichen Konstruktion der Fähre, verschiedenen ungünstigen Umständen (Hochwasser, Gier Stellung), und der ungleichen Verteilung der Leute auf dem Fahrzeug.
Urteil
So kam denn, was vorauszusehen und nach Lage der Dinge auch gerecht war: Der angeklagte Oberleutnant Jordan wurde freigesprochen, da ihm nicht zur Last gelegt werden konnte, was er in zu großer Gläubigkeit als eine Art militärisches Evangelium betrachtet hatte: die - wenn auch lückenhafte - Dienstvorschrift!
Weiteres
Heute ragt an der Veltheimer Fähre als Mahnmal ein schlanker Obelisk mit einem Kreuz in die Luft. Das Denkmal wird von einer Einheit der Bundeswehr gepflegt, und alljährlich am 31.März findet eine Gedenkfeier für die 81 Toten des Unglücks dort an der Fähre statt.
Zu erwähnen wäre vielleicht noch, dass der Fährmann Fritz Huck im 2.Weltkriege ebenfalls gefallen ist. Außer ihm zeichneten sich eine Reihe anderer Veltheimer Einwohner bei den Rettungsarbeiten aus. Von ihnen erhielten die Rettungsmedaille am Bande:
Fährmann Fritz Ruck, Zimmermeister Wilhelm Tellermann, Bäckermeister
Heinrich Tellermann, Landwirt August Tellermann sen., Schlosser August Buhmeier und Student Heinrich Boeke.
Mit der Erinnerungsmedaille für Rettung aus Gefahr wurden ausgezeichnet: Landwirt Wilhelm Behning, Landwirt Heinrich Pook, Landwirt Friedrich Vauth, Landwirt August Tellermann, Gemeindediener Heinrich Schäfer, Landwirt Heinrich Tellermann, Möllbergen, Landwirt August Hanke, Landwirt August Vauth, Landwirt Moritz Kütemeier, Zimmermann Karl Korte, Arbeiter Friedrich Schäfer, Bäckermeister Wilhelm Camen, Händler Friedrich Kütemeier, Beamtenanwärter August Buschmann, Tischlermeister Heinrich Freding, Techniker Heinrich Huck, und Frau Günther.
Die Folgen
Aus dem Veltheimer Unglück wurden dann allerdings glücklicherweise schnelle Lehren gezogen. Die „Opfertat“ der ertrunkenen „Helden“ (Reichswehrminister Geßler) löste nämlich bei den Pionieren bemerkenswerte Innovationen aus. Die Gierfähren wurden ab sofort nicht mehr eingesetzt. Stattdessen kamen nun sogenannte „fliegende Brücken“, zunächst mit Schlauchbootunterlagen, zum Einsatz. Auch die Schwimmausbildung für alle Soldaten wurde sofort massiv forciert.
Das Veltheimer Unglück hatte später noch weitere Auswirkungen. Die Journalisten Fritz Küster und Berthold Jacob recherchierten nämlich, dass die an dem Unglück beteiligten Soldaten größtenteils illegale Zeitfreiwillige (auf Grund der Versailler Verträge nach dem Ende des ersten Weltkrieges durfte das deutsche Heer nur 100.000 Mann stark sein, mit den Zeitfreiwilligen wurde diese Zahl unterlaufen) waren und veröffentlichten dazu am 11.4.1925 in der Zeitung „Das Andere Deutschland“ den Artikel „Das Zeitfreiwilligengrab an der Weser“. In den nächsten Ausgaben erschienen weitere Artikel.
Die beiden Journalisten wurden deshalb wegen Landesverrat angeklagt und vom Reichsgericht am 14.03.1028 zu je neun Monaten Gefängnis verurteilt („Ponton-Urteil“).
Am 20.3.1928 veröffentlichte Carl von Ossietzky (Pazifist, Journalist und späterer Friedensnobelpreisträger) in der Weltbühne seinen Aufsatz: „Der Ponton-Prozeß“.
Am 23.11.1931 wurde Carl von Ossietzky im so genannten „Weltbühnen-Urteil“ wegen Verrats militärischer Geheimnisse für ein Jahr und sechs Monate Gefängnis verurteilt.
Nach der Ablehnung zweier Gnadengesuche trat er am 10. 5.1932 seine Haftstrafe in Berlin-Tegel an.
Im Rahmen einer Weihnachtsamnestie wird er am 22.12.1932 wieder frei gelassen, allerdings in der Nacht des Reichstagsbrandes am 28.2.1933 wieder in Schutzhaft genommen.
Am 23.11.1936 erhält er für 1935 den Friedensnobelpreis; er stirbt an den Folgen der jahrelangen Gestapohaft am 14.5.1938.